Das junge Schriftstellerhaus

Figuren (als Personen) entwickeln – mehr als ein Steckbrief

Von Catarina Da Silva und Moritz Hildt

An die Entwicklung von Romanfiguren kann man auf so unterschiedliche Weise herangehen wie an das Romanschreiben selbst. Manche starten mit dem Äußeren der Figur – ihrem Aussehen, Kleidungsstil und augenscheinlichen Besonderheiten – und arbeiten sich dann in die psychologischen Tiefen ihrer Person hervor. Andere hingegen bestimmen als erstes den Kern der Persönlichkeit und widmen sich später dem äußeren Erscheinungsbild.

Eine hilfreiche erste Orientierung, welche Aspekte bei einer Charakterzeichnung wichtig sind, kann man in Lajos Egris Werk Dramatisches Schreiben (1946) finden. Egri unterscheidet drei Dimension von Romanfiguren, die es zu kennen gilt. Die physiologische (das äußere Erscheinungsbild), die soziale (z.B. Job, Umfeld, gesellschaftliche Position und Herkunft) und die psychologische Dimension (die Wünsche, Ängste, Sehnsüchte, Schuldkomplexe und Fantasieren).

An welcher dieser Dimensionen man ansetzt, ist Geschmacksache. Wichtig ist am Ende dynamische, pro-aktive Charaktere zu gestalten.

Innerer und äußerer Konflikt / Aktive Charaktere

Der innere Konflikt der Protagonisten ist der Motor deiner Geschichte. Darum greift er mit der Entwicklung des Plots stark ineinander. Eine aktive und lebendige Figur bringt die äußere Handlung voran und ist spannender zu lesen als eine, die wie ein Strohsack durch den Plot gezogen wird.
Wie der amerikanische Autor Kurt Vonnegut schon sagte: Jede Figur sollte etwas wollen. Bevor äußere Konflikte diesem Ziel in den Weg treten, tut es bestenfalls der innere Konflikt – was hält die Figur selbst davon ab, ihr Ziel zu realisieren? Hier, in der psychologischen Dimension, treffen Ängste, Sehnsüchte und Ziele aufeinander. Der Charakter will auf etwas zusteuern oder von etwas weg – für beides muss er aktiv werden.

Um eine gewisse Tiefe zu erreichen, klärt man zunächst die Frage nach dem Warum?, nach dem Ursprung.

Sehen wir uns folgendes Beispiel an:
Unser Protagonist Theo hat Angst vor engen Bindungen und vermeidet darum Beziehungen.

Woher stammt die Angst, welche Erfahrungen aus seiner Vergangenheit bestimmen diesen Weltblick? Wie wirkt sich die Angst auf Theos Handeln aus, auch in anderen Bereichen seines Lebens?

Ein „klassisches“ Erklärungsmuster: Theo wurde von seiner ersten wirklichen Liebe betrogen und verlassen. Es hat sich der Glaube in ihm festgesetzt, dass solche Fälle die Regel sind und es entstand die Angst, sich neu zu verlieben und auf eine Beziehung einzulassen.

Sein Ziel ist es also, Schmerz und Verlust zu vermeiden, was sein Verhalten so beeinflusst, dass er die Entstehung von engen Bindungen vermeidet – selbst als er auf eine Frau trifft, die in ihm einen gegenteiligen Wunsch weckt.

Nicht jeder Teil der Ursprungsgeschichte muss für die Leserinnen detailliert auserzählt werden. Besser ist: Gerade genug davon durchscheinen zu lassen, um die Handlungen der Figur nachvollziehbar zu machen und einen Einblick in ihr Inneres zu geben. Figuren dürfen den Leserinnen rätselhaft bleiben (nur den Autorinnen nicht).

Diese Grundlage eröffnet die Möglichkeit, eine Entwicklung anzustoßen, bzw. sichtbar zu machen. Für gewöhnlich durchläuft eine (Haupt-)figur im Verlauf der der Geschichte einen Lernprozess. Dabei bezwingt sie ihren inneren Konflikt und erreicht auf diese Weise ihr Ziel, beziehungsweise kann sich ihren Wunsch erfüllen.

Ein Ende für einen Roman zu unserem obigen Beispiel könnte also sein, dass unser Protagonist Theo im Laufe der Handlung gelernt hat, seine Angst zu überwinden und so seinem eigentlichen Wunsch nachzugehen.

Lebendigkeit durch Details

„When writing a novel a writer should create living people; people not characters. A character is a caricature.“ – Ernest Hemingway

Egal ob wir nun, wie oben beschrieben, uns vom Inneren der Figur zu ihrem – nicht weniger wichtigen – Äußeren vorarbeiten, oder umgekehrt: Lebendig werden Romanfiguren durch Details. Dazu gehören Grundinformationen über das Aussehen, aber auch Merkmale wie Gestik, Mimik oder besondere Angewohnheiten, Vorlieben oder Ticks.

Eine gute Möglichkeit, um solche Details für eine Figur zu entwickeln, ist, sich ihren Alltag vor Augen zu führen:. Woraus besteht ihr soziales Umfeld, wie sieht ihr Berufsleben aus, welchen Platz nimmt sie in der Gesellschaft ein, hat sie einen Partner, wo ist sie geboren? Man sucht außerdem die Antwort auf Fragen nach bestimmten Fähigkeiten, Vorlieben oder Antipathien und darauf, was ihre Art ausmacht. 

Stimme finden

Viele Schreibende gehen einem weniger schematischen Ansatz beim Finden ihrer Figuren nach. Oft entstehen Ideen erst während des Schreibens, oder neue Eigenschaften der Charaktere kristallisieren sich mit der Zeit heraus. Um die Stimme einer Figur zu finden – darunter versteht man die Art und Weise, wie die Figur im Romangeschehen auftritt, spricht und denkt – und so auch ihr Inneres besser kennenzulernen, bieten sich bestimmte Übungen an: Du kannst deine Figur zum Beispiel einen Brief an einen nahestehenden Menschen schreiben lassen: Wie schreibt sie? Was ist ihr wichtig? Ist sie offen und aufrichtig? Wenn nein, warum nicht? Auch Tagebucheinträge bieten Gelegenheit für sehr persönliche, private Gedanken. Eine weitere Übung ist das sogenannte „Figuren-Interview“, in dem du als Autor*in ein Gespräch mit deiner Figur führst: Formuliere gute Fragen – am besten ist eine Mischung aus oberflächlichen und in die Tiefe gehenden – und lass deine Figur antworten. Schlussendlich kannst du auch mit dem Schreiben von einzelnen Szenen beginnen, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie sich die Person verhält und wie sie die Welt sieht.

Drei Autor*innen erzählen, wie sie das Entwickeln ihrer Figur angehen:

Portätfoto von Anneli Mey
Anneli Mey, © emmis.fotowelt

„Mir ist bei einer Figur vor allem ihre Authentizität wichtig. Eine glaubwürdige Entwicklung erreiche ich am besten, wenn ich die Figur im Schreibprozess mitentwickle. Daher arbeite ich mit einer Vielzahl an Skriptszenen, die sich oftmals spontan ergeben und die Figur formen. Manchmal hilft es mir auch, Szenen außerhalb des geplanten Skripts zu schreiben, um die Figur in verschiedenen Szenarien zu erleben. Es hilft mir, meine Figuren kennenzulernen und auch Charakterzüge zu kennen, die vielleicht in Folgebänden oder für die Backgroundstory wichtig sein könnten.“ – Anneli Mey, Autorin Instagram: @anneli.mey_autorin

 

Portraitfoto Rainer Würth
Rainer Würth, © Magdalena Winek

„Du baust, erschaffst eine Figur, damit sie lebendig wird. Das ist ein aufwendiger Prozess, der seine Zeit kostet. Am Ende (also bevor du mit der Figur zu erzählen beginnst) muss sie „laufenkönnen. Das bedeutet, dass die Figur sich selbstständig durch die Geschichte bewegt, ohne von dir an die Hand genommen werden zu müssen. Beim Schreiben einer Szene mit der Figur hast du dann oft das Gefühl, dass du nur aufschreibst, was sie gerade tut. Du musst dir nie überlegen, warum, was oder wie sie etwas tut. Und genau so muss es sein. Die Figur ist real geworden – sie lebt.“  – Rainer Würth, Autor & Fotograf https://www.rainerwuerth.de/

 

Porträtfoto von Alice Vakhitova
Alice Vakhitova © privat

„Zentrale Figuren entstehen bei mir aus einem Gefühl heraus. Ich habe immer eine Vorstellung davon, was die Figur verkörpern soll. Dieses Gefühl wird zu einer Art Motto, was heißt, dass ich alle Charakterdetails um diese Kernemotion herum baue. Das hilft mir dabei, eine stimmige Figur zu entwickeln, ohne jeden Charakterzug genau auszuarbeiten. Zusätzlich zum klassischen Charakterprofil lege ich außerdem sehr großen Wert darauf, mir für jede Figur drei individuelle Details zu überlegen. Das können Vorlieben sein, Ticks, ein bestimmtes Schmuckstück oder ein Wort, welches diese Figur im Dialog oft verwendet. Auch wenn nicht jedes Detail am Ende im Projekt vorkommt, hilft es mir sehr dabei, Figuren lebendiger wirken zu lassen.“ – Alice Vakhitova, Autorin und ehemalige Teilnehmerin des Jungen Schriftstellerhauses

Text: Catarina Da Silva und Moritz Hildt

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