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12. April 2018

Weil ich die Szene, die ich gestern fertiggestellt, mental noch nicht abgeschlossen hatte, drängten die Füße zu einer Wanderung. Nichts sprengt den Kreis der Gedanken so wirksam, wie eine Strecke zu laufen. Das hilft nicht nur AutorInnen, sondern auch Melancholikern. Das mag einer der Gründe für die melancholischen Autoren der deutschen Romantik gewesen sein, die Natur zu entdecken.

Da der ÖPNV streikte, schien es geboten eine Strecke innerhalb des Stadtgebiets zu wählen. Ich knöpfte mir den Höhenpark Killesberg vor. Zwar hatte ich ihn schon von oben eingesehen, als ich die Weißenbergsiedlung besucht hatte, aber hindurchgelaufen war ich noch nicht.

Zunächst aber gesellte ich mich für eine Weile zu den KollegInnen von Verdi. (Ich bin Mitglied des Verbands deutscher Schriftsteller. Der VS-NRW tagt übrigens zurzeit in Bad Honnef.) Statt »Brüder zur Sonne zur Freiheit« wurden die aktuellen Forderungen gerappt. Der Rap verursachte ebenso viel Gänsehaut wie früher die alten Arbeiterlieder. Das energiegeladene Lachen bahnte sich seinen Weg im Rufen des Refrains.

Vom Haus der Wirtschaft aus wanderte ich durch den Stadtgarten, dann etwas kreuz und quer, die Ehrenhalder Staffel hinauf zum Tazzelwurm – welch herrlicher Name! – und zum Bismarckturm. (Den Reim hat sich die Stadt ausgedacht, nicht ich.)

Auf der Feuerbacher Heide machte ich eine Entdeckung: Ein Biotop war zerstört und am anderen Ort künstlich aufgebaut worden. Ich kann mich nicht daran erinnern, etwas Ähnliches schon gesehen zu haben. Wälle waren aufgeschüttet worden, die ich für eine Baustelle gehalten hatte, bis mich Schilder darüber aufklärten, dass hier Eidechsen angesiedelt worden waren. Eine der Maßnahmen im Zuge des Bahnhofs- und Streckenbaus. Eine weitere ist der Lotse auf einer der Schlossgartenbrücken in der Nähe des Bahnhofs, der die Fahrradfahrer vor zu schneller Abfahrt in die Baustelle hinein warnt. Solch einen Service habe ich auch noch nie erlebt. Offenbar versucht man, jeglichen Streit zu vermeiden.

Beim Italiener auf dem Gelände des Tennisklubs hielt ich Mittagspause. Von dort hat man einen weiten Blick über das Tal und die angrenzenden Hügel. Danach geriet ich, schönen Wegen statt streng der Karte folgend, auf die Rebenhalde. Damit war entschieden, dass ich meine Pläne änderte und über den Pragfriedhof auf den Schlossgarten zurücktröpfelte. Die Gänseküken zeigten an, wie weit der Frühling fortgeschritten ist. Ich legte mich eine Weile zu ihnen und schloss endlich meine Szene ab. Jetzt bin ich frei für die nächste. Spötter werden einwenden: Du warst nur zu müde, um die Gedanken weiter zu wälzen. Mag sein, wir werden ja sehen, was meine zukünftige Lektorin oder meine Leser dazu sagen werden.

Abends zum Vortrag von Prof. Heiner Monheim zum Thema »Transformation einer Autoregion, Verkehrswende in Stuttgart« im Hospitalhof. Im Publikum saßen hauptsächlich Menschen, die ohnehin schon überzeugt waren. Das kenne ich von Lesungen aus meinem Roman »Stern über Europa«, der sich mit einer sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltigen Gesellschaftsentwicklung nach der aktuellen Weltwirtschaftskrise beschäftigt.

Monheim wies noch einmal auf die Gesundheitsgefährdung durch Abgase hin. In den 50er, 60er und 70er Jahren kannten wir Schilder in privaten Garagen, die vor Abgaskonzentration warnten. Heute hängen sie in Tiefgaragen und Tunneln. Wir glauben, dass die Abgase »draußen an der frischen Luft« so verdünnt werden, dass sie uns nicht schaden. Wir verhalten uns wie Kinder, die ins Schwimmbecken pinkeln und hoffen, dass sich das Gelb bis zur Unsichtbarkeit verdünnt. Wir bedenken nicht, dass wir Milliarden Kinder mit Millionen Fahrzeugen sind. Und so groß dem Kind das Becken vorkommt, für so unendlich halten wir die Atmosphäre.
Die Autos, die wir hierzulande aus dem Verkehr ziehen, weil sie den Umweltstandards nicht mehr entsprechen, verschiffen wir nach Afrika. Das ist unmoralisch und verkennt, dass die Atmosphäre keine nationalen Grenzen kennt – ebenso wenig wie die Wirtschaft.
Wären die gesundheitlichen Folgen ebenso plötzlich und schockierend zu sehen wie bei einem Atomunfall, hätten wir längst den Verkehr umgestellt. Aber die Erkrankungen sind schleichend und nicht eindeutig zuzuordnen.

Was tun? Monheim zählte so viele Beispiele in so großer Geschwindigkeit auf, dass ich sie mir nicht merken konnte. Da ich nur mal kurz zum Vortrag gegangen war, hatte ich nichts zum Schreiben dabei. Wer sich interessiert, mag Heiner Monheim neustes Buch lesen oder sich Kopenhagen anschauen. Einzelne Beispiele bieten auch andere Städte. (Das Ruhrgebiet wurde vorbildlich für seine Radschnellwege genannt. Übrigens machte der Radverkehr in den 50er Jahren im Ruhrpott 40% des Gesamtverkehrs aus. In den 80er Jahren waren es noch 3%. Das könnte sich ja wieder wandeln.)

– Fahrbahnverengung war ein Stichwort. Was in Baustellenbereichen üblich ist, könnte flächendeckend eingerichtet werden, um Fahrrädern und Fußgängern Platz zu schaffen. Denn viele Freizeitfahrer wagen sich nicht dauerhaft in den Straßenverkehr, obwohl sie Spaß am Radfahren haben. Berge sind kein Thema mehr, seit es E-Bikes gibt.
– Vorrang für Fußgänger war ein weiteres Stichwort. Es darf nicht sein, dass Fußgänger in Unterführungen gezwungen werden, weil das Auto Vorrang hat. Von meiner Seite darf ich ergänzen: Die Wartezeiten an den Fußgängerampeln und deren ungünstige Schaltungen demütigen mich gegenüber dem Autoverkehr.
– Ein Bürgerticket für alle war ein drittes Stichwort. Mit Einführung des Studententickets stiegen viele Studis in den ÖPNV um. Wie wäre es, wenn jeder Bürger eine jährliche Abgabe für den ÖPNV leistete und dafür frei fahren dürfte? Monheim schlug vor, dass die evangelische Kirche ihren Mitgliedern schon einmal solch ein Angebot macht. Die Kosten hielten sich für den Einzelnen in Grenzen, da der massenhafte Einkauf der Tickets die Preise senkte. Das ist ja auch bei anderen Produkten üblich.
– Umgekehrt könnten wir die Subventionierung des Straßenbaus und den mehrspurigen Ausbau einstellen und Autofahrer mit den tatsächlichen Kosten konfrontieren. Denn Straßen bekommen wir vom Staat geschenkt, den ÖPNV nicht. Das Wort »geschenkt« geht mir nicht leicht in die Tastatur; in Wahrheit haben wir die Straßen mit unseren Steuergeldern bezahlt. Hier könnten die Prioritäten anders gesetzt werden.

Viele weitere Beispiele hat Monheim aufgezeigt, aber ich muss jetzt zurück an meine eigene Arbeit. Und genau das ist vielleicht das Problem: Jeder von uns ist ein kleines Rädchen im System. Wir erledigen weiterhin unsere Aufgaben, anstatt uns den neuen zuzuwenden und umzudenken bzw. »umzuhandeln«. Müssen wir das wirklich alles der jungen Generation aufbürden?

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Anja Liedtke
Anja Liedtkehttps://anja-liedtke.de/
Aus Bochum nach Stuttgart kommt von April bis Juni 2018 Anja Liedtke. Der Schritt dürfte ihr und ihren Figuren nicht so schwer fallen. Anja Liedtke arbeitet derzeit an ihrem fünften Roman “Ein Ich zu viel”. Im letzten Jahr überzeugte Liedtke mit ihrem Roman “Schwimmen wie ein Delfin oder Bowies Butler” Die promovierte Autorin schreibt Reiseerzählungen, Romane, Theaterstücke und Sachbücher. (Foto: Jörg Abel)