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Ich starre gern Leute an, in Stuttgart.

Lena Schätte übt sich im Alleinsein, begegnet dabei der Stadt, lässt sich den Segen geben und ist froh, dass sie gerade nicht zum Zahnarzt muss.

Aufenthaltsstipendien bringen fast immer unweigerlich ein Alleinsein mit sich, landet man nicht zufällig in einer Stadt, in der man ohnehin schon ein Rudel Freunde hat. Ich war vorher noch nie in Stuttgart, und so verbringe ich viel Zeit allein. Ich sitze auf Parkbänken und trinke Kaffee aus Pappbechern, ich gehe ins Museum, ich gehe im Laub spazieren, mit knalllauter Musik auf den Kopfhörern, und komme mir vor wie eine Figur aus einem Entwicklungsroman. Ich fahre mit der U-Bahn umher, ich arbeite in der Bibliothek, ich gehe auf Lesungen, ins Kino und manchmal ins Theater. Was erst einmal klingt, als wolle ich hier Mitleid einheimsen, weitet in Wahrheit den Blick und ermöglicht schräge und wunderbare Begegnungen, die ich zu Hause niemals hätte. Weil dort alles bereits durchdacht ist. Weil ich jeden Menschen, den ich beim Bäcker treffe, schon mein halbes Leben lang kenne, weiß, wann das erste Kind kam, wann die Scheidung, wann der Faible für Printhemden und warum der Hund an der Leine so schwer atmet. Hier ist alles neu, und so starre ich Leute an, werfe mich in das Gewirr aus orangenen Breuninger-Tüten, denke mir Geschichten aus. Neulich spricht eine Frau mich an, bietet mir an, für mich zu beten – ich sähe aus, als bräuchte ich es. Ich bin frisch geduscht und gekämmt, verstehe die Welt nicht mehr, doch bald liegt ihre Hand auf meiner Schulter, und sie schmettert los. Ein anderes Mal stehe ich arglos im Lidl an der Hackfleischtheke, da spricht mich eine Frau mit schönem Kopfschmuck aus Perlen und Federn an, erzählt mir von ihrem übergewichtigen Hund und dass dieser jetzt immer Putenhack zu fressen bekäme – sei ja widerlich, aber was will man machen, was muss, das muss. Wieder zuhause sitze ich im Wohnzimmer der Stipendiatswohnung, lege die Füße hoch, beobachte die Zahnbehandlungen im Hochhaus gegenüber, fühle tiefe Dankbarkeit, dass ich das da drüben nicht bin. Zumindest nicht heute. Und während ich ins Bett gehe, beginnt die Bäckerei unter meinem Fenster zu arbeiten, die Bleche fliegen hin und her, jemand dreht das Radio auf, singt ein bisschen mit. Bis es in Schlafzimmer riecht als stecke man mit dem Kopf in einem Plunderteilchen. – Ich weiß, klingt alles erfunden, aber nein. Das ist wohl mein Stuttgart diesen Herbst.

 

Lena Schätte
Lena Schätte
Lena Schätte (* in Lüdenscheid) ist eine deutsche Schriftstellerin. Sie wurde mit dem Roman "Das Schwarz an den Händen meines Vaters" bekannt. Für den Prosatext Schnapstage erhielt sie 2024 den W.-G.-Sebald-Literaturpreis. Lena Schätte ist im Herbst 2025 Stipendiatin im Stuttgarter Schriftstellerhaus.