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Andere Städte, mögliche Leben

Das Schreiben fällt mir gerade schwer, weil viel zu viel los ist, in der Welt. Aber auch diese Stadt kommt kaum zur Ruhe; tägliche lese ich in den Stuttgarter Nachrichten von Sturmschäden und Bombendrohung am Hauptbahnhof, einer entschärften Weltkriegsbombe, einem flüchtigen AfD Politiker, der in der Nähe gefasst wurde; von einem Mörder, der entwischt und noch immer flüchtig ist und nachts werde ich nicht nur vom Bäcker, sondern auch von einem permanenten Tatü-Tata in den Schlaf gelärmt. Vorgestern Nacht ist in einem Haus das obere Geschoß ausgebrannt, zwei Straßen weiter, direkt gegenüber vom Lidl.

Ich bin zuhause gewesen, also in Leipzig, für ein paar Tage, um einmal durchzuschlafen und die sozialen Batterien aufzuladen und zu meinem eigenen Erstaunen habe ich mich darauf gefreut, wieder nach Stuttgart zu kommen. Stuggi und ich, wir sind noch nicht ganz fertig miteinander, obwohl jetzt fast schon Halbzeit ist, es geht ja dann doch immer alles recht schnell, nicht wahr. Und ich denke darüber nach, wie der Mensch sich gewöhnt, an Orte und Zustände, im Guten wie im Schlechten. Das Gute, hier: mich nach wenigen Wochen bereits einigermaßen zurechtfinden, I’m schließlich a big city Girl. Lieblingsorte haben. Einmal treffe ich Janina, die neue Geschäftsführerin, morgens mitten auf dem Charlottenplatz und bin ganz aufgeregt: noch nie habe ich in dieser Stadt zufällig eine mir bekannte Person auf der Straße getroffen!

In meinem zweiten Roman, der im März 2024 erscheinen wird, denkt eine Figur: wie gut es wäre, wenn man verschiedene Leben ausprobieren könnte, bevor man sich für eines entschied. Genau so fühlt es sich gerade an. Als probierte ich ein anderes, mögliches Leben aus. Eine andere, mögliche Stadt, eine weitere auf der Karte, nach Hamburg, Leipzig, Berlin, Amsterdam, Prag und den vielen kleinen Orten, an denen ich mich aufhalten durfte, zwei Monate oder zwanzig Jahre. Eine Stadt, und das ist keine Überraschung, die es nicht werden wird, die ich abhaken kann, in die ich zwar gern und hoffentlich schon bald (Frühjahr 24, wie gesagt!) zurückkehren werde, für eine Lesung oder was auch immer, aber hier leben, nein danke, wie Tocotronic singen. Und das ist ja auch wirklich total okay, denn Stuttgart braucht mich nicht; bei jedem Fuß, den ich vor die Tür des Schriftsteller:innenhauses (it’s about time, y‘all!) setze, spüre ich, wie voll sie ist, diese Stadt. Und wie es niemanden zu stören scheint. Die Leute rücken einem ständig auf die Pelle, stapeln sich gelassen in die Straßenbahn, atmen einem auf Rolltreppen in den Nacken; mehr als einmal muss ich darum kämpfen, ohne Körperkontakt zu der Person hinter mir an der Kasse meine Geheimzahl einzugeben.

Ihr seid einfach so viele! Vielleicht kommen ein paar von euch ja am Montag, den 13. November, zu meiner Lesung, ich würde mich freuen.

Janna Steenfatt
Janna Steenfatt
Von Oktober bis Dezember 2023 wird Janna Steenfatt aus Leipzig in die Wohnung im 3. Stock des Schriftstellerhauses einziehen. Die Autorin ist Jahrgang 1982, in Hamburg geboren, hat am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert von 2004-2010 mit Gastsemestern im Studiengang Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin und im Studiengang Duitse Taal en Cultuur an der Universität von Amsterdam. Im Jahr 2020 veröffentlichte sie im Verlag Hoffmann und Campe den Roman „Die Überflüssigkeit der Dinge“. Autorinnenfoto: Sascha Kokot