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Der Neckar hinter dem Schlosspark. Ich fühle mich immer wohl in der Nähe des Neckars. Wegen Hölderlin? Oleg Jurjew sagte mir einmal, der Neckar habe Hölderlin immer gutgetan. Er hätte sich lieber ausschließlich in Städten aufhalten sollen, wo der Neckar fließt.

1992 und 1993 hatte Oleg Jurjew das Stipendium der Akademie Schloss Solitude und ich war fast die ganze Zeit dabei. Und noch einmal, 2007, waren wir da oben, Oleg wurde als Gast eingeladen und beendete dort seinen Roman „Die russische Fracht“:
www.suhrkamp.de/buecher/die_russische_fracht_42076.html
keinundaber.ch/de/literary-work/die-russische-fracht/

Wir haben damals Stuttgart von oben gesehen – spät am Abend war die Stadt ein umgekehrter Himmel mit vielen Lichtern. Irgendwo unten war der Neckar, das wussten wir, sehen konnten wir ihn natürlich nicht.
Jetzt ist der Neckar ganz nah und Solitude irgendwo oben unter den vielen abendlichen Lichtern.
2007 hat Oleg Jurjew dort oben einen Gedichtzyklus geschrieben, „Februar auf dem Hügel“. Daniel Jurjew hat mir versprochen, einige Gedichte daraus zu übersetzen. Ich werde sie hier präsentieren.

Auch einige Prosagedichte hat Oleg Jurjew dort geschrieben, dieses zum Beispiel:

„NEUES AUS DER BAUMKUNDE; DIE SCHILLERHÖHE OBERHALB VON STUTTGART; EINSTMALS HERZOGSPARK, HEUTE WILDWUCHS MIT NUMERIERTEN BAUMSTÄMMEN UND BIOLOGISCHEM WINDBRUCH; ANSCHEINEND MITTE MÄRZ

Hinterm See gingen, an ihren Füßen schnüffelnd, Hirsche, klein und grau.

Sämtliche Bäume – von denen mit Nadeln abgesehen – standen seit dem Winter unabgestreift mit schon getrockneter, aber noch anhaftender Erde. Der blättrig weißgoldene Himmel zerschliss an den Kronengerippen.

… Bekanntlich geschieht es Ende Herbst oder Anfang Winter (je nach Art und Klima), dass die Bäume – von denen mit Nadeln abgesehen – sich im unbeobachteten Moment blitzartig drehen. Dann fahren die Äste mitsamt dem Laubgelump in die Erde hinein, und die feuchten Wurzeln schnappen – wupp! – in den Himmel.

Im Frühling dann schlagen die gewesenen Wurzeln aus, treiben Blüten und Blätter, je nachdem – bis sie sich wiederum drehen im Herbst. Eine Art Sanduhr. Jedoch mit dem Sand nicht innen, sondern außen. Und es ist meistens gar kein Sand, sondern irgendein Dreck, eingerührtem Schwarzpulver ähnlich.

… In den staubigen Baumwipfeln ließ jemand emsig eine Schuppentür auf- und zugehen. Natürlich gab es da oben keinen Schuppen – wozu wäre er nütze gewesen? – es war ein Specht. So singen Spechte.

Wenn

die Hirsche den Kopf in den Nacken legten, um den Sänger zu sehen, sahen sie aus wie die ungehörnten Schäferhunde.“

Das Gedicht wurde zitiert aus: www.978-3.com/verlagsveroeffentlichungen/von-orten-ein-poem

Schloss Solitude 2007, Oleg Jurjew (re.) mit Mircea Cărtărescu, der zur selben Zeit Gast des Schlosses war, am Bärensee        Foto: Olga Martynova
Schloss Solitude      Foto: Oleg Jurjew

 

 

 

 

 

Olga Martynova                Foto: Oleg Jurjew
Olga Martynova
Olga Martynova
Olga Martynova ist von Februar bis Ende April 2021 Gast im Stuttgarter Schriftstellerhaus. Sie erhält das Lyrikstipendium des Schriftstellerhauses für ihren Zyklus “Speranza”, der in einen geplanten Lyrikband einfließen soll. Olga Martynova, 1962 in Sibirien geboren, aufgewachsen in Leningrad. 1991 zog sie zusammen mit Oleg Jujew (1959-2018) nach Deutschland. Zahlreiche Veröffentlichungen in russischsprachigen Periodika, vier Lyrikbände. Ihre Gedichte sind ins Deutsche, Französische, Schwedische, Italienische, Serbische, und Englische übersetzt. Seit 1999 schreibt sie Buchbesprechungen und Essays für deutschsprachige Medien (u.a. Die Zeit, Frankfurter Rundschau, Neue Zürcher Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung).