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Buchempfehlung von Moritz Hildt: “Ein Nachsommer mit Stifter. Oder: Der unverhoffte Reiz der Langeweile”

Cover der dtv-Ausgabe vom Nachsommer
Cover der dtv-Ausgabe vom Nachsommer

Keine Frage: Im nun schon zurückliegenden Jahr 2021 haben wir wirklich so etwas wie einen „Nachsommer“ erlebt – milde Tage im Herbst also, in denen es scheint, als würde der Sommer noch einmal für eine gewisse Zeit zurückkommen. Inzwischen ist jede Spur davon schon längst verschwunden. Und tatsächlich habe ich meine Lektüre des Romans von Adalbert Stifter (1805–1868) zwar in der titelgebenden Jahreszeit begonnen, sie aber erst zu Ende gebracht, als es draußen schon frostig zuging und die ersten Schwibbogen in den Fenstern leuchteten. Aber damit, mit dieser Verzögerung, sind wir genau genommen schon mitten im Thema. Denn eilig haben sollte man’s besser nicht, wenn man den Nachsommer in die Hand nimmt…

In falscher Bescheidenheit hat Stifter seinen 1857 erschienenen Roman Der Nachsommer schlicht als „Eine Erzählung“ untertitelt. Tatsächlich ist der Roman in meiner Ausgabe über siebenhundert dünnbedruckte Seiten stark. Und nicht nur das. Die Geschehnisse um den jungen Heinrich Drendorf, so der Name des Protagonisten (den man im übrigen erst im dritten Teil des Romans erfährt), sind in bestechender Gemächlichkeit erzählt. Dazu kommt ein Augenmerk aufs Detail, das immer wieder in eine geradezu enzyklopädische Versessenheit ausartet und dabei mit einem erzählerischen Atem gepaart wird, der es fast unbegreiflich macht, wie dem Autor beim Schreiben nicht das passieren musste, was mir als seinem – ihm durchaus geneigten – Leser mehr als einmal geschehen ist: unweigerlich in einen Zustand lähmender Langeweile zu verfallen.

Dabei hat die Handlung durchaus viel für sich: Heinrich, ein aufgeschlossener und weltneugieriger Sohn aus gutem Wiener Hause, hat sich der Wissenschaft verschrieben und unternimmt lange naturkundliche Wanderungen durchs Land. Um vor einem vermeintlich drohenden Gewitter Schutz zu suchen, erbittet er an einem Landgut Einlass. Der bereits in die Jahre gekommene Hausherr nimmt ihn gastfreundlich auf. Diese Begegnung markiert den Beginn einer ungewöhnlichen Freundschaft, in der sich der Ältere – seinen Namen, es ist der Freiherr von Risach, erfahren wir immerhin schon deutlich früher als den des Protagonisten – als eine Art Mentor erweist, der Heinrich in seiner Persönlichkeits-entwicklung begleitet: von seiner Begeisterung für die Wissenschaft über die für die Malerei bis hin zur Liebe, die Heinrich, so viel sei verraten, in nicht allzu weiter Ferne des Freiherrn entdeckt. Als braver Bildungsroman-Protagonist erreicht Heinrich auf den letzten Seiten den Schlusspunkt seiner Selbstvervollkommnung und sieht ein, dass das Familienleben wichtiger ist als alles andere, und dass auch jede wissenschaftliche oder künstlerische Tätigkeit nur gelingen kann, wenn sie, vermittelst der Familie, „Einfachheit, Halt und Bedeutung“ erlangt.

So weit, so gut. Aber der Nachsommer ist eben nicht nur ein Bildungsroman. Da ist nämlich auch noch die Hintergrundgeschichte des Freiherrn von Risach, der gelinde gesagt Adorno alle Ehre macht und mit dem größten Teil seines eigenen Lebens unter Beweis gestellt hat, dass es eben „kein richtiges Leben im falschen“ gibt. Und der dennoch, das ist das Eklatante des Romans, ein derart milder, lebenskluger und durch und durch humanistischer Mensch ist. Den zarten Nachsommer, den er selbst im Herbst seines Lebens erfahren darf, gönnt man ihm als Leser von Herzen. Überhaupt ist der Roman von einer geradezu aggressiven Gütigkeit: Alles, aber auch wirklich alles, was auch nur halbwegs von Bedeutung ist, geht gut aus. (Für die Zweifler und Zyniker ist das natürlich unerträglich: wenig überraschend war es Arno Schmidt, der den Nachsommer als die „Magna Charta des Eskapismus“ bezeichnet hat.)

Und noch etwas macht den Roman besonders. Zugegeben, er hat mich immer wieder in die Langeweile hineinkatapultiert, jenen ätzenden Zustand monotoner Unruhe. Aber natürlich, machen wir uns nichts vor, ist die Langeweile für uns nur deswegen ein so großes Übel, weil wir ständig meinen, keine Zeit zu haben. Das Ausgebremstwerden birgt seine eigenen Schätze. Einige davon lassen sich bei einer einlässigen Nachsommer-Lektüre heben. Und wenn das gelingt, geschieht Großes. Dann wird die Frage, ob nun das Gewitter, das Heinrich eingangs zum Haus des Freiherrn von Risach bringt, tatsächlich kommen wird (wovon Heinrich durch seinen naturkundlichen Erfahrungsschatz felsenfest überzeugt ist und worauf auch die wissenschaftlichen Messgeräte am Haus hindeuten), oder eben nicht (woran Risach in aller Seelenruhe festhält und was er, wie er detailreich offenlegt, am Verhalten der Tiere festmacht), zu einer ganz und gar packenden Frage, bei der man mitfiebert, als stünde man kurz vor der Auflösung eines Krimis.

Es steckt ein hintergründiger Reiz in der Langeweile. Die Einladung, Stifters Nachsommer zu lesen, ist unter anderem auch das: eine Einladung, diesen Reiz kennenzulernen, sich ihm hinzugeben und ihn auszukosten. (Und auch, stellenweise, von ihm überfordert zu werden.) Genau genommen steckt in dem Roman sogar eine doppelte Provokation: Die Gemächlichkeit im Erzählen fordert unsere Ungeduld heraus, den Drang, unsere Zeit in jeder freien Minute möglichst gut und effektiv zu „nutzen“. Und die ungebrochene Haltung zum Glück, die der Roman an den Tag legt, fordert unsere Überzeugung heraus, „wahre“ literarische Helden müssten gebrochene, und wirklich gute Geschichten müssten zwangsläufig solche des Unglücks sein.

In beiden Hinsichten tun wir gut daran, ab und an wachgerüttelt zu werden.

Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Mit einem Nachwort von Uwe Japp, dtv Verlagsgesellschaft 2017, 777 Seiten.

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