Kathrin Schmidt, die diese schöne Dachstube des Stuttgarter Schrifttellerhauses zwei Jahre vor mir bewohnte, hat im vergangenen Herbst einen neuen Gedichtband herausgebracht, den ich lese, was ein wunderbarer Zufall ist.
Es war sehr schwierig, ein Gedicht auszuwählen (was ich machen wollte, um auf den Band aufmerksam zu machen). Am besten sollte man den Band in die Hand nehmen und von der ersten bis zur letzten Seite lesen.

Da ich nicht gegen © verstoßen will, tippe ich jedoch nur ein Gedicht ab, aber wie gesagt, am besten einfach das Buch besorgen (die Buchläden sollen wieder geöffnet werden, verspricht man!) und lesen.
Ich habe dieses Gedicht ausgewählt, weil in ihm die trostlose Verlassenheit alter Fabriken und die Unsichtbarkeit der weiteren Geschichten ihrer einstigen Mitarbeiter, „des buchhalters oder der näherin, der putzfrau oder des einbläsers“, zu einer mythischen Erzählung werden, in der versunkene Welten, durchsichtig, fragil und poetisch, weiterleben.
werkswesen
in verlassnen fabriken kümmern die werkswesen vor sich hin,
spalten manchmal noch holz, hängen die verblichenen kleider
in den wind, der durchs dach geht. oder sie öffnen
alt gewordene büchsen für ihre bescheidenen mahlzeiten,
die sie dann kauernd verzehren. ihre gemeinschaft
wird kleiner, sie haben zu sterben begonnen, als der letzte
durchs tor ging. nicht abschloss. die werkswesen tragen
züge des buchhalters oder der näherin, der putzfrau
oder des einbläsers. sie halten an ihnen fest, solange
sie können. kommt abriss, fliehn sie auf andere dachböden.
legen zusammen, dem letzten tag einen stützstrumpf zu kaufen,
den er noch überstreift, ehe er sie verlässt und kantinengelaber
endgültig mit ihm geht.
Aus: Kathrin Schmidt: „sommerschaums ernte“. Gedichte. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 108 S., geb., 20 €.
