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Stuttgarter Gedichte von Oleg Jurjew

Meine Spazierwege sind nun unten, vor vielen Jahren haben Oleg Jurjew und ich vom Schloss Solitude oben hierher nach unten geschaut. Und so entstand ein Gedichtzyklus von Oleg. Wie versprochen Daniel Jurjews Übersetzung des ersten Gedichtes daraus:

Die beiden letzten Zeilen beschreiben das, was wir da oben bei klarem Himmel abends gemacht haben: Wir schauten „vom Hügel, wie in der schwarzen Grube die goldenen Städte atmen“. Die „Städte“ sind Stuttgart und kleinere Ortschaften um Solitude herum.

DREI SECHSZEILER MIT DEM WORT „WASSER“

Aus dem marmeladenglasleeren Himmel

mit seinen dicken gekanteten Flanken

ist Wasser aufs Sieb gegossen.

All die Mullstopfen versiegeln nicht recht –

rutschen langsam durch, bis sie

zum Pflasterschnee fallen, hierher.

Wir leben wie die Alge am Grund

eines trübwandigen leeren Himmels,

wo Wasser auf Seiern rast.

Und mit Sausen – Rasiermesser auf Gurt –

umfliegen uns am Rand halb-

übergesetzte Züge.

Wann immer das Rattern der Räder

irgendwo hinter den Rändern einfriert,

Löscht Wasser sich in jedem Tropfen.

Dann führt uns der Hirte hinaus,

vom Hügel zu schauen, wie in der schwarzen Grube

Die goldenen Städte atmen.

Aus dem Russischen von Daniel Jurjew

Das Original:

ТРИ ШЕСТИСТИШИЯ СО СЛОВОМ «ВОДА»

Из небес, как баночка, пустых

с толстыми гранеными боками

на дуршлаг откинута вода.

Все затычки-марлечки невстык –

проползают медленно, пока не

валятся в брусчатый снег, сюда.

Мы живем, как водоросль, на дне

смутностенного пустого неба,

где на ситах носится вода.

И со вжиком — бритвой на ремне —

облетают нас по краю недо-

переправленные поезда.

А когда колесный перестук

замерзает где-то за краями,

в капле каждой гасится вода.

И тогда выводит нас пастух

поглядеть с холма, как в черной яме

дышат золотые города.

II-III, 2007, Schloss Solitude, Stuttgart

Olga Martynova
Olga Martynova
Olga Martynova ist von Februar bis Ende April 2021 Gast im Stuttgarter Schriftstellerhaus. Sie erhält das Lyrikstipendium des Schriftstellerhauses für ihren Zyklus “Speranza”, der in einen geplanten Lyrikband einfließen soll. Olga Martynova, 1962 in Sibirien geboren, aufgewachsen in Leningrad. 1991 zog sie zusammen mit Oleg Jujew (1959-2018) nach Deutschland. Zahlreiche Veröffentlichungen in russischsprachigen Periodika, vier Lyrikbände. Ihre Gedichte sind ins Deutsche, Französische, Schwedische, Italienische, Serbische, und Englische übersetzt. Seit 1999 schreibt sie Buchbesprechungen und Essays für deutschsprachige Medien (u.a. Die Zeit, Frankfurter Rundschau, Neue Zürcher Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung).