Ein lauer Spätsommerabend am Neckar – am 06.09.2024 bot die Stadtteilbibliothek Bad Cannstatt die perfekte Atmosphäre für das 20. Jubiläum der Stuttgarter Lyriknacht. Dass die große Stadtbibliothek am Mailänder Platz aufgrund von Bauarbeiten nicht verfügbar ist, scheint ein Zeichen des Schicksals gewesen zu sein, denn direkt am Neckar konnte man den Worten von Şafak Sarıçiçek, Lütfiye Güzel, Alexandru Bulucz und Odile Kennel besonders eindrücklich lauschen und bei schöner Aussicht auf den Fluss in den Lesungsabend eintauchen. Die Stadtteilbibliothek Bad Cannstatt feiert außerdem in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen und ist somit Austragungsort von zwei Jubiläumsfeiern zugleich. Das Stuttgarter Schriftstellerhaus beteiligte sich mit einem lyrischen Performance-Beitrag von drei jungen Dichterinnen des Jungen Schriftstellerhauses und einer Lesung der ehemaligen Stipendiatin Odile Kennel, die 2014 im Dachgeschoss der Kanalstraße 4 an ihren Werken arbeitete.
Zunächst wurde die 20. Stuttgarter Lyriknacht von der Stadtbibliothek eröffnet und es ging los mit Şafak Sarıçiçek, der u.a. aus seinem neuen Gedichtband Wasserstätten las. Der thematische Schwerpunkt seiner Lyrik liegt aktuell auf dem Wasser, was auch im Gespräch mit Beate Tröger mehrfach aufgegriffen wurde – besonders passend dazu, dass am Schauplatz des Abends der Neckar seine Bahnen zieht.
Darauf folgte Lütfiye Güzel, die auf Einladung des Literaturhauses ihre Lyrik präsentierte. Sie las aus ihrem neuen Gedichtband ich. soll. ruhiger. werden., der in ihrem eigenen Verlag go-güzel-publishing erschienen ist. Mit ihren humoristisch angehauchten Texten und den schlagfertigen, teils ironischen Antworten auf Beate Trögers Fragen sorgte Güzel für viele Lacher und eine heitere Stimmung im Publikum.
Nach einer kurzen Erfrischungspause, die viele nutzten, um am Büchertisch ihre ersten Eindrücke der Texte zu vertiefen, ging es weiter mit Alexandru Bulucz, der ebenfalls auf Einladung des Literaturhauses vor Ort war. Er las aus seinen aktuellsten Lyrikbänden Stundenholz und was Petersilie über die Seele weiß, in denen sich literatur- und sprachphilosophische Einflüsse mit religiös-kulturellen Bezügen zu Buluczs Heimat Rumänien verweben.
Anschließend folgten die Beiträge des Schriftstellerhauses, angeführt von einer Performance der drei Lyrikerinnen Helena Bierbaum, Luisa Kunth und Laura Yllari Bayer des Jungen Schriftstellerhauses. Mit einer kraftvollen und ausdrucksstarken Sprache verpackten sie weibliche Rebellion, große Gefühle und Untergangsstimmung in eine poetische Performance, bei der die verschiedenen Sprechanteile der drei Stimmen ineinanderflossen und ihre eigenen Ströme verfolgten.
Zu guter Letzt las Odile Kennel auf Einladung des Schriftstellerhauses aus ihrem Lyrikband Irgendetwas dazwischen und stellte auch Textpassagen aus anderen Werken vor. Wie dem Publikum schnell klar wurde, liegt das Besondere in ihren Gedichten u.a. darin, dass Kennel mehrsprachig schreibt – mit Einflüssen aus dem Deutschen, Französischen, Englischen, Spanischen und Portugiesischen. In ihrer Lyrik treffen sich die Sprachen und verfallen in ein gegenseitiges „osmotisches Übersetzen“, wie Kennel es nennt. Die Übersetzungsthematik spielt bei den Texten eine besondere Rolle, da die Autorin diese Aufgabe oft selbst übernimmt. Zur Lyriknacht brachte sie eines ihrer Gedichte mit, dessen Original französisch ist, das sie aber selbst ins Deutsche übersetzt hat. Auch wem nur eine der Sprachen geläufig ist, konnte lautliche und rhythmische Parallelen erkennen, die das Gedicht und Kennels Lyrik grundsätzlich auszeichnen – die Mehrsprachigkeit entsteht vor allem aus dem Klang heraus. Im Gespräch mit Moritz Heger stellt Kennel fest, dass sich das Französische besonders gut für Wortspiele eigne, weil viele Wörter Homophone sind, also ähnlich klingen, sich aber verschieden schreiben. Die Vorzüge und Eigenheiten der Sprachen nutzt Odile Kennel in ihrem Schreiben und thematisiert Körperlichkeit, Geschlecht, Liebe und Identität durch das Verschwimmen von Klang und Sinn.
Von Uwe Kühner, der den Abend musikalisch begleitet und die Gedichte der Lyriker live vertont hatte, gab es zum Schluss ein Abschiedsgeschenk: eine letzte Perkussion zu Kennels Lyrik, die mit viel Applaus belohnt wurde.
Nach einem langen Abend voller guter Gespräche und mitreißender Leseproben bildete sich erneut eine lange Schlange am Büchertisch und die Autorinnen und Autoren zeigten sich erfreut, viele Autogramme verteilen zu können.
Text, Bilder und Video: Nathalie Pfannendörfer
Auch unser Schriftführer Michael Seehoff war an dem Abend dabei. Er schildert seine Eindrücke auf seinem Blog. Sie können seinen Bericht hier nachlesen.