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Weihnachtsempfehlung von Astrid Braun: Edgar Selge, „Hast Du uns endlich gefunden“

In unserer Reihe „Weihnachtsempfehlungen“ ist Astrid Braun an der Reihe, die uns den Roman „Hast du uns endlich gefunden“ von Edgar Selge wärmstens ans Herz legt …

Es ist nahezu Astrid Braun "mit" Edgar Selge © privategal, welche Seite ich aufschlage in dem Buch von Edgar Selge. Zum Beispiel S. 181: „Für meinen Vater bedeutet Fleisch auf dem Teller die Wiederherstellung  seiner Grundrechte. Zwischen Weihnachten 42 und der Währungsreform 48 war es Mangelware.“ Nicht nur diejenigen, deren Eltern oder Großeltern den Zweiten Weltkrieg erleben und überleben mussten, auch deren Kinder und Enkelkinder, also wir im weitesten Sinne, wissen, warum man die Gleichstellung von Fleisch und Grundrechten als Bild funktioniert. Die angedeutete Entbehrung von Nahrung hat erstmal nix Lustiges. Aber das unerwartete Bild in diesem Kontext ist komisch. Und von solchen originellen Zusammenhängen, ja fast Zusammenstößen gibt es im Roman von Selge eine ganze Menge.

„Hast du uns endlich gefunden“, heißt der Roman, in dem der Autor sein Leben  fiktionalisiert hat. Selge wurde 1948 geboren, wuchs in Herford auf, hatte vier Brüder und einen Vater, der Gefängnisdirektor war und phantastisch Klavier spielte. Edgar Selge spielt auch Klavier, aber gilt vor allem als einer der bedeutendsten Charakterdarsteller auf deutschen Bühnen.

Eigentlich verursachte mir das Erscheinen des Buches erstmal Unwohlsein. Wieder ein Schauspieler, der sein Leben aufschreibt. Zugegeben mit Joachim Meyerhoff und seinen inzwischen fünf Bänden über sein Leben habe auch ich mich phasenweise sehr amüsiert, habe mich an seinen bildreichen Wortkaskaden erfreut, aber bisschen mulmig wird einem, wenn wieder ein „famous actor“ einen Roman veröffentlicht.

Meyerhoffs Vater war übrigens Direktor einer psychiatrischen Einrichtung, die Familie lebte auf dem Gelände der Klinik, so wie Selge und seine Brüder neben der Jugendvollzugsanstalt, die sein Vater leitete, aufgewachsen sind.

Auch Selge beutet in gewisser Weise seine Familie aus für kuriose Geschichten. Wer hat schon einen Vater, der Direktor eines Knasts gewesen ist und 80 von 400 der jugendlichen Inhaftierten regelmäßig zum weihnachtlichen Hauskonzert einlädt, jeder mit einem Stuhl „bewaffnet“…

Allerdings erwartet die Leserin, den Leser nicht eine oberflächliche Anekdotensammlung. An diesem Buch muss Selge lange gearbeitet haben, die Struktur der Perspektivwechsel zwischen dem 12-jährigen Edgar und dem Mann von heute ist ausgeklügelt. Die Selbsterkundung ist zum Teil gnadenlos, denn Selge entlarvt seine Lügen, seine Diebstähle und schont sich nicht. Auch den Missbrauch durch den Vater, den er und auch seine Brüder erdulden müssen, verschweigt er nicht. Selge schreibt offen, klar und direkt. Kurze prägnante Sätze liegen ihm eher als stilistisch Verschwurbeltes. Und natürlich erfahren wir viel über das Nachkriegs-Deutschland, über die mangelnde Aufarbeitung der Nazizeit, die auch zu großen innerfamiliären Zerwürfnissen geführt hat. Und immer wieder diese Liebe, möchte man rufen, immer wieder diese Liebe zu den Seinen, nein, zu den Menschen, auch wenn vieles schwierig, schmerzhaft und unverständlich gewesen ist. Selge hat sie gesucht und gefunden.

Ich will ehrlich sein, ich habe mir den Roman zuerst angehört, weil Selge selbst ihn eingelesen hat. Man könnte jetzt vermuten: eine tolle, professionelle Stimme adelt alles, aber das hat der Roman gar nicht nötig, es ist fabelhafte Literatur entstanden. Sicher eine, die auch nach dem laut gesprochenen Wort geschrieben ist, Rhythmus und Klangfarbe dieser lakonischen Prosa sind wunderbar.

Edgar Selge: „Hast du uns endlich gefunden“. Rowohlt Verlag, Hamburg, 2021, 304 Seiten, 24 Euro

 

 

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