Im Vorwort zu seiner wunderbaren Novelle Was Maisie wusste (1897) schreibt Henry James: „Keine Themen sind so menschlich wie jene, die aus dem Chaos des Lebens das Verhältnis von Glück und Elend zeigen – zwischen den Dingen, die helfen, und jenen, die schmerzen.“ Und, so könnte man hinzufügen, was die Sache, im Leben wie in der Literatur, zusätzlich kompliziert macht, ist, dass die Dinge, die helfen, oft dieselben sind wie die, die Leid mit sich bringen. Diese Überlegungen von Henry James führen bereits mitten hinein in Das Grab von Ivan Lendl (2022), einem ungemein fesselnden Roman über Schuld, Sprachlosigkeit und das, was James das „Chaos des Lebens“ nennt.
Der Roman, es ist der dritte des in Wien lebenden Autors Paul Ferstl, erzählt die Geschichte von Pich, der neunzehn Jahre alt ist, aus der Steiermark stammt und seinen Zivildienst in Rumänien absolviert. Auf einer Baustelle kommt ein ehemaliger Zivildienstler zu Tode; allem Anschein nach ein dummer Unfall, Alkohol ist im Spiel.
Ausgehend von dieser Situation entführt uns die Geschichte um Pich, den zurückhaltenden, dabei genau beobachtenden Helden, in jenes sonderbare, eigenwillige Milieu aus Zivildienstlern, Hilfsarbeitern und Hängengebliebenen. Rumänien, dieses schrullig-liebenswerte Land, in dem das Metaphysische noch ein fester Bestandteil des Alltags ist, bildet dabei weit mehr als bloß den Hintergrund für die Handlung: In der Ambivalenz des Landes spiegelt sich diejenige der Figuren wider. Sie kennen einander nur unter ihren Spitznamen – auch Pichs vollen Namen erfahren wir Leser erst spät –, womit die Uneigentlichkeit bereits von Vornherein Programm ist. Und es ist eine der zentralen Fragen des Romans, wie viel Toleranz wir bereit sind, aufzubringen, um einem Menschen, den wir kennenlernen, die Komplexität zuzugestehen, die er mit sich herumträgt.
Trotz seiner existentiellen Thematik liest sich der Roman leicht; es macht richtiggehend Spaß, sich von ihm mitreißen zu lassen. Das liegt, neben dem guten Blick des Autors fürs genaue Detail und dem überraschenden, schockierenden Ende, auch an der Situationskomik, die keine geringe Rolle spielt. Die Geschichte ist geschrieben mit viel Witz und einem wunderbaren Gespür für die unnachahmliche Nüchternheit der österreichischen Sprache im Dialog. Und eben darin, in dieser Verbindung von ernsten, tief gehenden Fragen mit Witz, Alltagshumor und Schrulligkeiten, steht der Roman im Schulterschluss mit dem oben zitierten Gedanken von Henry James: Dasjenige, was das Verhältnis von Glück und Elend bestimmt, ist eben oft genug tragisch und komisch; die beiden erweisen sich als Kehrseiten derselben Medaille.
Paul Ferstl, „Das Grab von Ivan Lendl“, Wien: Milena Verlag 2022, 294 Seiten, 24 €