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2. Weihnachtsempfehlung von Moritz Hildt: Flannery O’Connor, Keiner Menschenseele kann man noch trauen

Gut behütet, das Buch von Flannery O'Connor © Moritz Hildt
Gut behütet, das Buch von Flannery O’Connor © Moritz Hildt

Flannery O’Connors Werk ist einer der großen, bislang in der deutschsprachigen Literaturlandschaft noch kaum gehobenen Schätze der US-Amerikanischen Südstaatenliteratur. Zwei großartige Romane hat sie veröffentlicht – Wise Blood (1954) und The Violent Bear it Away (1960) – und eine stattliche Anzahl an Kurzgeschichten. Das einzige, was es vor ihr derzeit auf Deutsch zu haben gibt, ist eine gute, neu übersetzte Auswahl ihrer Stories, erschienen unter dem Titel Keiner Menschenseele kann man noch trauen beim Züricher Arche-Verlag. Damit gibt es für Leserinnen und Leser hierzulande nun immerhin die Möglichkeit, ein bisschen in O’Connors Oevre hineinzuschnuppern.

Dunkel sind ihre Geschichten, atmosphärisch und abgründig. Sie spielen im ländlichen Raum des tiefen Südens, wo die Kirche nie weit entfernt ist vom Gefängnis – oder vom Friedhof. Selten begegnet man darin gebildeten Menschen oder Städtern. Meist sind es, wie eine ihrer Erzählungen überschrieben ist, „anständige Leute vom Land“, die sich dann, bei genauerer Betrachtung, oft genug als gar nicht so anständig erweisen. Die Schwüle des Südens, eine stets lauernde, diffuse Bedrohung in der Luft, Menschen, die ihre Ziele, welche auch immer es sein mögen, mit fanatischem, blind machenden Eifer verfolgen – das ist der Stoff, aus dem O’Connors Erzählungen sind.

So macht eine Familie in der Erzählung Ein guter Mensch ist schwer zu finden auf dem Weg nach Florida den fatalen Fehler, einen Anhalter mitzunehmen. In Der Fluss ist ein kleiner Junge so begeistert von einer Tauf-Zeremonie an einem großen Fluss, zu der ihn seine Babysitterin mitgenommen hat, dass er sich am nächsten Tag allein auf den Weg dorthin macht. Und in Die Lahmen werden die Ersten sein hilft ein Vater derart eifrig anderen Menschen, dass er die Bedürfnisse seines eigenen Sohnes nicht mitkriegt und, aus Hilfsbereitschaft, die folgenschwere Entscheidung trifft, einen jugendlichen Straftäter bei sich im Haus aufzunehmen.

Flannery O’Connor ist nicht nur eine bestechend gute, mitreißende und kluge Erzählerin. Sie ist außerdem auch eine enorm reflektierte Autorin, die über das Schreiben, auch das eigene, nachdenkt und sich dem Handwerkskoffer der Schriftstellerei mit derselben Klarheit und Pointiertheit widmet wie den menschlichen Fehlbarkeiten in ihren Geschichten. Die Vorträge und Essays, in denen sie das tut, sind in dem (leider nur auf Englisch erhältlichen) Band Mystery and Manners versammelt, der für mich ganz persönlich zum wichtigsten und inspirierendsten gehört, was ich je über das literarische Schreiben gelesen habe.

Bei aller Düsternis, die ihre Geschichten an den Tag legen – und das tun sie fraglos –, wäre es doch falsch, Flannery O’Connor als eine Pessimistin zu lesen, oder gar Misanthropin. Die Autorin, die bereits mit 39 Jahren an den Folgen einer (damals noch) unheilbaren Krankheit starb und den größten Teil ihres Lebens gemeinsam mit ihrer Mutter auf einer Farm gelebt und dort Pfauen gezüchtet hat, schreibt mit einer großen Anteilnahme und einem tiefen Mitgefühl für ihre Figuren. Auch wenn das Böse oft lauter oder augenfälliger sein mag, so ist in ihren Erzählungen das Gute immer ebenfalls präsent. Und die existentielle Herausforderung, vor der wir stehen, ist die Frage danach, für welche der beiden Optionen wir uns entscheiden. Und ob es uns dabei gelingt, uns von dem uns eigenen, allzu menschlichen Narzissmus zu lösen und andere Menschen mit in den Blick zu nehmen.

Und so haben O’Connors Texte, allem ersten Anschein zum Trotz, sogar eine höchst weihnachtliche Botschaft.

Flannery O’Connor, “Keiner Menschenseele kann man noch trauen, aus dem Amerikanischen übersetzt von Anna und Dietrich Leube, Zürich, Arche Literatur Verlag 2019

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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