Am 25. April starb der schwedische Autor Per Olov Enqvist im Alter von 85 Jahren. Ein Grund für Astrid Braun, noch einmal an den historischen Roman „Der Besuch des Leibarztes“ zu erinnern:
Kennen Sie dieses Gefühl, wenn Sie die ersten Seiten eines Buches lesen und Sie spüren, Sie haben etwas ganz Großes in der Hand? So erging es mir, als im Januar 2001 das Leseexemplar des Leibarztes ins Haus kam.
Wobei ich mit historischen Romanen im allgemeinen gewisse Probleme habe, dient die vergangene Zeit doch allzuoft als farbenprächtige Kulisse, die dafür herhalten muss, das tolldreiste Treiben der Menschheit einmal mehr schaurig-schön zu bebildern.
Das interessiert den 1934 geborenen Per Olov Enquist nicht.
Eine bestimmte historisch belegte Konstellation zu wählen, um sich daran zu entzünden, das ist seit Shakespeare und Schiller eine ganz besondere Art, im historisch Besonderen das allgemein Menschliche aufzuspüren.
Auf die Frage, was ein historischer Roman sei, hat Enquist selbst einmal geantwortet: „Wir müssen die Lücken ausfüllen, sonst gar nichts.“ Geschichte diente ihm als Folie seiner fiktionalen Arbeit, als Basis, von der aus der Erzähler parteiisch Verbindungen in die Gegenwart zieht, nach Anknüpfungspunkten sucht.
Die bevorzugte Epoche von Enquist war die am Vorabend der französischen Revolution, die Aufklärung.
Zum historischen Kern des Romans: Den Leibarzt des dänischen Königs Christian VII., der in Altona geborene Johann Friedrich Struensee, hat es gegeben, ebenso alle anderen Figuren und die im Roman verarbeiteten politischen Entwicklungen zwischen 1768-1772.
Der Roman beginnt damit, womit die meisten Romane aufhören: mit dem Ende, mit der Feststellung, dass Struensee 1772 hingerichtet wurde. Erzählt wird gegen den Strom wie im Mythos, alles ist entschieden, bevor es noch einmal zur Sprache kommt. Dazu passt, dass Enquist mit dem Porträt des härtesten Widersachers Struensees einsetzt, mit dem Höfling Guldenberg. Außerdem postiert er die anderen Protagonisten auf dem Spielfeld, bevor er dazu übergeht, das Wie und Warum zu erklären.
In Kürze: König Christian VII. aus Dänemark ist verrückt. Oder nur zerbrochen unter dem Einfluss intriganter und machtgieriger Beamter, die das „Tollhaus“ der dänischen Monarchie im 18. Jahrhundert bevölkern?
Vier Jahre lang, von 1768-72 wird der junge, kranke Monarch von einem deutschen Leibarzt namens Struensee aus Altona betreut. Struensee, der eigentlich nur Arzt sein will, aber innerlich auch Feuer gefangen hat für die Idee der Französischen Aufklärung, nutzt die Gunst der Stunde, der König ist ihm ergeben, und entzündet im kargen, kleinen Land des Nordens das Licht der Aufklärung. Fieberhaft erlässt Struensee 632 Dekrete, schafft Folter und Zensur ab und … verliebt sich unsterblich in die junge englische Prinzessin Mathilde, die Gemahlin des Königs. Es ist zwingend, dass er für die Überschreitung dieses Tabus mit seinem Leben büßen muss.
Ein historischer Roman, der symbolträchtig zwar, aber mit einfachsten erzählerischen Mitteln gleich mehrere Romane auf einmal schreibt: den über die Psychologie der Macht, über die Tragödie einer aussichtslosen Liebe, über den Idealismus des Revolutionärs, der wie Danton nicht nur an den Abgründen des allzu Menschlichen scheitert, sondern zuletzt auch an den eigenen Zweifeln und tiefster Melancholie.
Es ist ganz klar, dass Struensee nicht nur für den vernünftigen Aufklärer steht, sondern auch für den rebellischen Menschen, der sein Glück machen möchte, für den ganzen Menschen, der Verstand und Gefühl zusammenbringen möchte. Dagegen steht die Maschinerie des Staates, das Machtgetriebe des politischen Apparates, das man nicht einfach außer Kraft setzt. Man reibt sich nach der Lektüre verwundert die Augen. Ein Geschehen, so weit weg und doch so nah. Wenn, wie Enquist im Roman Diderot sagen lässt, die Geschichte manchmal durch einen Zufall einen Spalt in die Zukunft öffne, durch den man sich hindurchdrängen müsse, dann hat der Autor dieses Wunder gleichsam umgekehrt vollbracht und im Blick zurück den entlegenen historischen Gegebenheiten ein betörend intensives Leben eingehaucht.
Das Schönste an dem Buch sind die Porträts der handelnden Personen. Ob es sich um Struensee handelt, in all seiner Widersprüchlichkeit, ob um den König, der in seinen Wahnvorstellungen die moderne Frage nach dem Gesunden und dem Kranken umkreist, ob um Mathilde, die in der Liebe erblüht und doch nie aus dem Auge verliert, was Herrschen heißt, ob es sich um die Widersacher und auch ihre verqueren Seelen handelt, Enquist hat da aus einer Zeit, aus Quellen und Vorstellungen einen unglaublich variantenreichen Extrakt destilliert. Erzählerisch ist er trotz seiner Wortökonomie in der Lage, vom Komödiantischen ins Tragische, Satirsche oder Romanzenhafte zu wechseln.
Ganz großes Kino! Mit diesem Roman gehört Enquist zu meinen persönlichen Top 10.
Verschiedene Feuilletons würdigen Enquist’s Werk (Auswahl):
Der Spiegel: „Per Olov Enqvist ist tot“
ZEIT online: „Seine Helden waren die Letzten“
FAZ.NET: „Dinge, von denen man nur in einem Roman berichten kann“
Deutschlandfunk: „Die ewigen Rätsel menschlicher Existenz“
Wenn Sie nun gerne etwas von Per Olov Enquist lesen möchten, finden Sie die lieferbaren Titel mit den notwendigen bibliographischen Angaben für eine Bestellung im unabhängigen Buchhandel hier.