Von dem 1857 in Polen geborenen Joseph Conrad, der zu einem der bedeutendsten Schriftsteller in englischer Sprache wurde, stammt eine der mir liebsten Definitionen von Kunst: Sie sei, so Conrad, der Versuch, „aus ihren Formen, ihren Farben, ihrem Licht und ihrem Schatten, aus der Beschaffenheit der Dinge und den Geheimnissen des Lebens das Dauerhafte und Wesentliche herauszufinden.“ Um nichts weniger geht es also in der Literatur als darum, sich mittels der Worte auf die Suche nach dem Geheimnis des Lebens zu machen.
Kürzlich ist in der edlen Reihe „Hanser Klassiker“ eine Neuübersetzung einer der packendsten Erzählungen Conrads herausgegeben worden: Lord Jim. Dieser 1900 erschienene Roman hat alle Zutaten für eine ebenso tiefgehende wie kurzweilige Lektüre in den gemütlichen Sofa-Tagen zwischen den Jahren: Es ist eine Abenteuergeschichte, die vom harschen Leben auf dem Meer erzählt, von der ewig lauernden Unberechenbarkeit und von einem Menschen, der das Unmögliche versucht: nicht nur lange und weit zu rennen, sondern dabei auch noch sich selbst zu überholen.
Der Protagonist Jim begeht als Erster Offizier auf einem überfüllten Pilgerschiff einen folgenschweren Fehler. Dieser Fehler lässt ihn nicht mehr los und macht ihn zu einem rastlos Getriebenen. Schließlich, auf einer entlegenen Südseeinsel angekommen, von deren Einheimischen er als Friedensstifter verehrt wird, scheint so etwas wie Glück für ihn doch noch möglich zu sein. Doch dann tauchen dort Menschen auf, die zu wissen scheinen, wer er ist.
Lord Jim ist vieles: ein spannender Abenteuerroman, eine psychologische Tiefenstudie menschlicher Abgründe und eine Reise in eine Welt, die es so heute nicht mehr gibt. Im Zentrum des Romans steht dabei die Frage, ob unser Charakter – das, was uns zu dem Menschen macht, der wir sind – nicht vor allem damit zu tun hat, wie wir auf Ereignisse reagieren, die jenseits unserer Kontrolle liegen.
Joseph Conrads Erzählen lebt von genauer Beschreibung, von konkreten Details und prägnanten Sinneseindrücken. Dies ist, gemäß seines oben erwähnten Verständnisses von Kunst, seine Art, dem „Geheimnis des Lebens“ nachzuspüren. Wer sich auf das Leseabenteuer von Lord Jim einlässt, dem offeriert der Roman das, was Conrad zufolge gute Literatur ihren Leserinnen und Lesern anbieten sollte: „Ermutigung, Trost, Furcht und Bezauberung, kurz alles, was ihr wollt, und vielleicht auch jenen flüchtigen Anblick der Wahrheit, nach dem zu fragen ihr vergessen habt.“
Joseph Conrad: Lord Jim. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Walter, Hanser Verlag, München, 2022
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