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Förderpreis an Sabina Lorenz

Laudatio für Sabina Lorenz
von Günter  Guben

anlässlich der Verleihung des Förderpreises am 12. April 2011 in der Stadtbücherei im Wilhelmspalais

Liebe Sabina Lorenz, liebe Freunde und Förderer des Stuttgarter Schriftstellerhauses, sehr geehrte Gäste heute bei der Verleihung des Förderpreises an die Preisträgerin.

Dank zu sagen, geziemt sich zuförderst. Einmal an die Leiterin der Stadtbücherei, Frau Ingrid Bußmann, und alle Mitarbeiterinnen des Hauses, die uns das Zugastsein ermöglichen und zu einem freudigen Anlaß werden lassen, zum andern an den VS – den Verband Deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg, der das Preisgeld gestiftet hat.
Eine Laudatio, meine Damen und Herren, darf auch einen Titel tragen.

Meiner lautet:

VOM EINHANDWINKEN OHNE ZAUNPFAHL
oder
WIE MAN EBEN DIES VERMEIDET

Es ist der Versuch in Wechselreflexionen von Prosa und Lyrik zum Verständnis der Arbeiten der Preisträgerin zu führen.

Kann man sich in Gedichten verlieren?
Die, die wollen sollen, sind keine Verlierer!

Dies, spontan, notiert beim ersten Lesen der ersten zwei Gedicht-Bände von Sabina Lorenz.

GEGEBEN SEI:

Es gibt so viele Welten, wie es phantasievolle Menschen gibt. Leider halt auch dumme.Wie kann man sie fassen? Unter anderem mit Gedichten.Wo bleibt die reale Welt, wenn sie in die individuellen Welten eingeht?

Was ist in solchen Fällen real? Es gilt, darf man behaupten, stets das, was in einem Gedicht enthalten ist!

Auch in scheinbar beiläufigstem Registrieren von Details vermag Sabina Lorenz große, allgemein­gültige Aussagen über eine Welt zu machen, deren Pole Realität und Imagination in überraschend ungewohnte Beziehung zueinander gesetzt werden.

Von Buch zu Buch, zwei sind bislang erschienen, am dritten arbeitet die Autorin, ist eine Verän­derung des Schreibstils zu erkennen, die sie allein deshalb schon sympathisch macht, erhält man doch Gewissheit darüber, dass sie sich nicht auf eine Masche, eine Machart festlegen lassen will. In ihrem ersten Gedichtband mit dem Titel „Die Fremde ist ein Ort“ steht unter anderem das Lang­gedicht „Überwintern“. Es ist ein narratives Gedicht, das mehrere Kurzgeschichten enthält. Um eine solche Beobachtungsgabe und deren Sprachtransformation muss man die Autorin beneiden. Es gibt nicht viele im deutsch­sprachigen Lyrikraum, denen Ähnliches gelingt und, was auch verblüfft, ein Gedicht mit einer sicherlich nicht derart beiläufig daherkommenden Leichtigkeit auszubreiten vermögen. Zwischen zwei kleinen Orten in Schwaben namens Gingen und Kuchen steht nahe an der Gleisanlage ein Schild mit der Aufschrift „Jungviehweide“ und, getrennt durch das Ausflussrohr einer Hangentwässerung ein zweites mit dem Hinweis „Sängerheim“.
Da ergaben sich für mich Assoziationen, die mir ein Gedicht von Sabina Lorenz entstehen lassen könnten. Imitator aber möchte ich nicht sein. Also erkläre ich die Bestandsaufnahme zum Kurzgedicht, das eine Welt für sich ist.

Gingen Kuchen suchen,
Jungviehweide, Wasserfluß vorm Sängerheim.

DEN AUFTAKT des ersten Gedichtbandes bildet die Vorstellung eines Kindes, ein Prosa-Gedicht vielleicht über eins, und holt aus, wie andere auch, nimmt Witterung auf in wortmächtiger Gier:

Wenn etwa ein Kind denkt,
und sich die Welt vorstellt,
die Erde, wie sie sein könnte,
woanders, und überlegt,
ob es dort, vielleicht auf denTonga-Inseln, Glastüren gibt,
wie die, die es kennt,
aber möglichst nicht anfassen
soll, weil dann, vielleicht,
seine Fingerabdrücke
die Scheiben beflecken;

Solch ein Gedicht etwa, gilt es zu lesen, wenn man nicht leiden will.

Was passiert eigentlich in unseren Köpfen, wenn Wirklichkeit nicht Wirklichkeit und Traum nicht Traum ist oder sein kann?
Wer sagt uns denn, was Realität ist und wie?
Wem soll man glauben? Macht es überhaupt Sinn, etwas zu glauben?

Annahmen allemal. Sich einlassen auf Zwischenwelten.

IMMER WIEDER einmal überrascht Sabina Lorenz mit schönen Wortschöpfungen: ‘Zeitflecken’, ‘Morgentier’, ‘Lüftlweiß’, ‘hügelnder Ort’, ‘Boskopbäckchen’. Man erinnert sich an das Expressionistische: „Sie absatzstöckelte die Treppe hinab.“

Wir alle kennen den Stroboskopeffekt. Lichtblitze in rascher Folge verlangsamen, je nach Frequenz, Bewegungen oder lassen sie einfrieren, stillstehen. So ähnlich, darf man sich vorstellen, schreibt die Autorin, indem sie bei Beobachtungen, ganz gleich wovon oder von wem, freiwerdende Details quasi in kurze Wortfolgen zerlegt und sie wieder auf diese Weise minutiös festhält.

Erst, wenn es dem Rezipienten ihrer Gedichte gelingt derartige Wortfelder qua Vorstellungskraft zu einem Ganzen zusammenzufügen, beginnt ein Informationsfluss über das, was die Basis des Mitge­teilten darstellt, zu berichten.

In dem Gedichtband „Dein Schweigen – meine Stimme“ von Marie-Luise Kaschnitz mit Gedichten aus den Jahren 1958 – 1961 steht eines mit dem schlichten Titel: „Ein Gedicht“. Die ersten Zeilen lauten:

Ein Gedicht, aus Worten gemacht.
Wo kommen die Worte her?
Aus den Fugen wie Asseln,
Aus dem Maistrauch wie Blüten,
Aus dem Feuer wie Pfiffe,
Was mir zufällt, nehm ich,
….. et cetera.

Darin auch steckt aber Methode; man muss ja ins Auge fassen, wovon man sich das Zufallen erhofft oder erwünscht. Ergo unterscheiden sich Kaschnitz und Lorenz nicht groß voneinander.

Das sensible Wahrnehmen, visuell wie akustisch, eine gute Spürnase, auch im wörtlichen Sinne, nicht zu vergessen, machen die optimale Voraussetzung für ein haltbares Gedicht aus.

Ebenso, wie die Gegenwart interessieren muß, sollte es die Vergangenheit sein, ohne deren geschichtliche Reminiszenzen eine gültige Aussage kaum vorstellbar ist. Man kann nur auf dem aufbauen, was hinter uns liegt, uns sei es die eigene vita..

VITA:

Sabina Lorenz, geboren 1967 in München, studierte von 1989 –1995 Sozialpädagogik in München und London, arbeitete danach bei Flüchtlingsprojekten mit, zeitweise als Streetworkerin und im sozialen Dienst.
Von 2003 – 2009 war sie Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift „außer.dem“. Sie lebt in München.

Im Jahre 2007 erschien ihr erster Lyrik-Band mit dem Titel „Die Fremde ist ein Ort“, 2010 der zweite mit dem Titel „Echos für eine Nacht“.

Sie erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen, u.a. im Jahr 2002 den Uslarer Literaturpreis, im Jahr 2004 das Stipendium des Berliner Literaturhauses, war im Jahr 2007 Turmschreiberein in Diessen, und 2008 für den Dresdner Lyrikpreis nominiert.

Als Kind hat sie Gott im Gras gesucht, da ihre Großmutter meinte Gott sei überall. – Es gibt ja Leute, auch heute, die sagen: Jesus ist überall: auf der Rolltreppe, im Kino und selbst unter der Dusche.  Sabina Lorenz fand Ameisen und eine Kellerassel. Die spießte sie mit einem Stöckchen auf. Ameisen schleppten sie fort und fraßen sie vermutlich auf.

Fraß Gott sich also selber auf?  – Diese Frage blieb unbeantwortet.

Die Autorin führt ständig einen Notizblock mit sich und macht Notate, gelegentlich auch über Gespräche. Sie sagt, dass sie über die Musik zum Schreiben gekommen ist. Rhythmen bestimmen nicht selten ihre Lyrik. Sie schätzt Lyriker „querbeet“, insbesondere aber südamerikanische, des phantastischen Realismus’ wegen.  Muss man Gedichte „verstehen“? Sicher nicht Wort für Wort oder rundum.

Gedichte vermögen, wenn sie den, so möchte ich es ausdrücken, „Zauber des Authentischen“ präsentieren, in Teilen durchaus unfassbar bleiben, und sind doch in der Lage zu bannen, Sog auszuüben auf die, die sie lesen.

Zeilen zwischen den Zeilen sorgen in der Regel dafür, dass sich einem Poesie erschließt, die gar nicht fixiert ist, eventuell auch nie geplant. Darin hat sie etwas mit Musik gemeinsam: durch die Aneinanderreihung von Einzeltönen ergeben sich deren Mischungen, die nicht notiert sind, doch aber hörbar werden.

BANN: Dir, Wort, fahre ich
in die Parade.
Du, Unschuld per se,
löschst mir den Durst.
Gemeinsam heben wir ab,
suchen Gefilde heim,
die Ohren besitzen
wie tausend Empfänger
und mehr – kann wohl sein.

Manche Zeilen von Sabina Lorenz klingen wie Beschwörungsformeln. Dann sprechen ein Ich und die Welt, die ist auch Gegenwelt und parallel existent, ob die Autorin das will oder nicht. Sie will aber, beschwört herauf, was eigentlich unsagbar zu sein scheint, über ihre Vermittlung nun verständlich wird und zugleich eine neue weitere Metapher.  Da heißt es einmal: ‘Die Tage hüpfen wie Perlen einer zerrissenenen Kette davon.’  Da ist die Rede von Schwänen, die sich in Tretboote verlieben. Da ‘ist es peinlich, überhaupt Nerven zu haben’. DA GIBT ES ‘Dinge, um den Besitz von Dingen nachzuweisen.  – Dinge, um Dinge zu beseitigen.

Mitunter gibt es Reihungen, Aneinanderreihungen, Ketten gleich, von Notaten, die Motive für andere Gedichte sein könnten, doch eben hier und in dieser Konstellation nur für dies eine zu Lesende gültig und möglich sind. – Ein Konstrukt eben, das wir Gedicht zu nennen belieben. – Was anderes aber könnte es sein? Vermöchte es auch anders sein?

Die Art und Weise, wie die Autorin die Welt sieht und empfindet, äußert sich in einem ihren „Tagesrandlagen“ vorangestellten Zitat von Jean Houston: „Ich habe mir“, sagt sie, ich habe mir einen Mythos stets als etwas vorgestellt, das nie da war, sondern sich ständig ereignet.“

Folgerichtig notiert die Autorin: „Menschen können das: einfach nicht mehr da und weg sein.“

Und damit meint sie keineswegs Tote.

Etwa, wenn Berührungen sich Liebender fremd zu scheinen beginnen, und erst dann, in diesem Übergang, Vertrauen entsteht, etwa in dem Feld, da Grenzen nicht mehr fass-, doch aber immer noch spürbar sind, dann träufeln Gedanken ins Hirn, die Impulse freisetzen für den, der Gegenüber und zugleich der Eine, das Eine ist und man selbst, und was man Liebe nennt. Dies zum Klangfeld gleichen Namens der Autorin Sabina Lorenz. – Man ist verblüfft, was alles und wie es gesammelt und herausgestellt wird.

Im zweiten Gedichtband zitiert sie selbst Alt- oder Mittelhochdeutsch, Zeilen die leben wie heute und heutiges Deutsch, durchflochten von Alltagswelt, U-Bahn-Schacht. Ein Mikrophon vorm Mund. Weitere Ausführungen könnten verbauen, was nun zum Schluss hin noch zur neuesten Produktion der Preisträgerin zu sagen ist.

Das Manuskript des dritten Lyrik-Bandes mit dem Titel „Schichten von Schnee“ ist noch nicht abgeschlossen. Es ist inzwischen ein Roman mit dem Titel „Aufhellungen“ entstanden und im März erschienen.

„Schichten von Schnee“ hat die Jury des Stuttgarter Schriftstellerhauses in Auszügen vorgelegen und zur heute hier in der Stadtbücherei stattfindenden Verleihung des Förderpreises geführt.  Wiederum, wie bei Erscheinen der Vorgängerbände auch, kann man eine Verlagerung der Achse des Lorenzschen Weltsicht konstatieren. Stärker als bislang wird nun Stellung bezogen und auf die ständige Verletzbarkeit des Individuums hingewiesen. Von Ostwindflüchtern ist die Rede oder, sehr aktuell, es wird festgestellt: „Wir brauchen keine Scanner, um uns nackt zu sehen.“ Vieldeutig wird erkannt, dass man ein Geschlecht durchaus beugen kann. Die Assoziationskette reicht hinein in die Tagespolitik, in Situationen, die mit Beugehaft beginnen und mit Erniedrigung und Folter enden.

Dies, geehrte Anwesende, dies sind Wege, die, denkt man sie weiter, mehr über unserer Welt aussagen als viele hoch gelobte, zeitgenössische Lyrik-Publikationen. Aktivitäten sonderbarer Art werden nun sprachlich in unterschiedlichste Materialwelten transponiert; ‘Straßen sind zu Schemen gefaltet’; Pinselhaare werden zusammengeführt zu einem kalligraphischen Schwung’. Und dann ‘taucht ein Schaf auf, das vergessen lässt, dass man schläft’.  Da kehren sie zurück die Pole Realität und Imagination, zwischen denen die Autorin ihr sprachliches Auskommen findet. Nun, so darf man behaupten, kommt sie gereift an, erreicht Küsten, die sie zwar immer schon streifte, doch deren Grund sie nicht zur Sesshaftigkeit verführen wollte und konnte.

Die Dinge an sich, liebe Preisträgerin, ich möchte darauf zurückgreifen, die Dinge an sich, und seien es Gedichte, interessieren uns sehr.  – Wir wollen davon hören.

Günter Guben

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