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In Zeiten von Corona: Susanne Stephan

Wir blicken dieser Tage fast drei Monate auf die Corona-Pandemie und dem damit verbundenen Lockdown in weiten Teilen Deutschland. Unsere Vorstandsmitglieder haben notiert, was Ihnen in dieser erzwungenen Pause so durch den Kopf gegangen ist.

Den Anfang macht die Autorin Susanne Stephan aus Stuttgart:

„Geh lieber in Dir selbst herum!“ Diesen Rat erhielt ich einmal, als ich mich ausgerechnet nach Berlin „zum Schreiben zurückgezogen“ hatte und natürlich viel in der Stadt unterwegs war. Ein guter Rat auch für Corona-Zeiten, wenn man vielleicht einer verpatzten Reise hinterherträumt? Was natürlich als Luxusproblem gelten kann. Luxus war für mich auch, dass bei mir keine Lesungen anstanden, die weggefallen wären, dass ich das Privileg hatte und habe, mich ganz auf ein neues Buch zu konzentrieren, das im nächsten Jahr erscheinen soll. Und nun durch das von außen verordnete „confinement“ nicht verlockt war, vorm täglichen mühsamen Voran-Schreiben zu fliehen durch (natürliche schöne) Ablenkung im Theater, Konzert, bei Lesungen anderer Autoren oder auf einer kleinen Reise. Mein Radius war der Wald um Botnang – wo ich jetzt, obwohl ich seit gut zwanzig Jahren hier wohne, manche Wege zum ersten Mal gegangen bin. Und beim Umherstreifen auch auf neue Pfade durch die eigenen Projekte geriet. Ein Lebensradius wie im 18. Jahrhundert, dachte ich, als man entfernte Ziele nur über mühselige Kutschfahrten erreichte. Als Fernreisen im Kopf stattfanden. Und welche tollen, mit ihren Ideen bis heute ausstrahlenden Texte stammen aus dem 18. Jahrhundert!

Schließlich bin ich noch auf andere Weise „in mir herumgegangen“ und habe alte Tagebücher herausgeholt. Seit Jahren wollte ich nach einem Eintrag um den 26. September 1983 herum suchen, jenem Tag, an dem die Welt knapp einem Atomkrieg entging, wie man heute weiß – verhindert durch einen einzelnen russischen Offizier, Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow, der Satellitensignale, die angeblich einen amerikanischen Angriff anzeigten, als Fehlalarm erkannte. Die atomare Bedrohung war für uns damals ein ständiger Schatten über dem Leben – was jetzt wie eine Phrase klingt, ähnlich wie „Klima-Krise“, die für viele Menschen auch sehr existentiell und prägend ist. Aber ich habe immer gescheut nachzusehen, weil es ja doch etwas Makabres, Ungeheuerliches hat – wobei der Hauptgrund doch eher war, dass ich erwartete, mich beim ‚Wiederlesen‘ nur über mich selbst zu ärgern, weil ich damals, meinte ich, alles ‚Eigene‘ als entweder nicht wichtig oder als besonders peinlich empfand. Und also nichts Interessantes notierte. Alle Energie in germanistische Hausarbeiten legte, statt das selbst Erlebte oder Erdachte als ‚besonders‘ oder gar als Stoff für einen literarischen Text zu begreifen. Aber dies war, denke ich heute, unter der germanistischen Glasglocke von Tübingen auch nicht möglich.

Zum September 1983 habe ich nichts gefunden, dafür zu meiner Überraschung die Schilderung einer Reise in die DDR im Frühsommer 1983, nach Jena, Weimar und Ost-Berlin – ein Treffen von Studenten aus Jena und Tübingen unterm Dach der evangelischen Kirche. Ich war vorher in der DDR gewesen (wir hatten dort Verwandte) und auch später noch einige Male in Ost-Berlin, aber gerade zu dieser Reise hatte ich erstaunlich viel aufgeschrieben, und es war erstaunlich interessant zu lesen. Das kleine persönliche Detail blitzt durch die politische Großwetterlage. Die ‚eigentlich nicht wichtigen‘ Geschichten aus dem ‚ohnmächtigen‘ Leben holen sich ihr Recht gegenüber der allgemeinen (allmächtigen?) großen Geschichte.

Vielleicht lohnt es sich doch, ein Corona-Tagebuch zu führen? Einiges habe ich notiert, weil es mir so unglaublich, absurd oder auch symptomatisch erschien. Ob es einmal interessant zu lesen sein wird, wenn die zahllosen Talkshows zu diesem Thema verrauscht sind – zunächst für mich, wenn ich wieder einmal in mir herumgehe?

 

 

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