Menü

Literaturempfehlung von Susanne Stephan: Drei Bücher im Schnee

Neulich war ich, als gerade mal reichlich Schnee lag, zumindest ab tausend Metern Höhe, im Schwarzwald. Ich kam für drei Tage mit drei Büchern – von denen ich dann doch nur eines geschafft habe, erschöpft von Schneeschuh- und Langlaufversuchen, von Wanderungen mit grandiosem Weitblick bis zu den Alpen. Und dieses Buch spielte ausgerechnet an der Nordsee: der vom Schriftstellerpaar Andrea Paluch und Robert Habeck gemeinsam verfasste Krimi Hauke Haiens Tod (bereits 2001 erschienen, aber lange vergriffen), ein Spin-Off zu Theodor Storms Schimmelreiter. Aber seit ich einmal in einem Urlaub an der Côte d’Azur ausgerechnet Herz der Finsternis von Joseph Conrad gelesen habe, weiß ich, dass eine solche kontrapunktische Lektüre auch reizvoll und augenöffnend sein kann: für das äußere wie das innere Auge. Die Handlung von Hauke Haiens Tod ist rund fünfzehn Jahre nach der verheerenden Sturmflut situiert, in dem der geachtete wie gefürchtete Deichgraf und seine Frau ums Leben kamen, und springt dabei gleich noch um 250 Jahre vom 18. Jahrhundert in die Gegenwart. Wienke, die einzige Tochter des Paares, hat die Sturmflut überlebt und wächst in einem Waisenhaus in Hamburg auf, in dem sie von Iven, einem Knecht ihrer Eltern, abgegeben wurde. In das Leben dieses Iven, jetzt Türsteher eines Nachtclubs, bricht sie plötzlich ein, beharrlich ihre Spurensuche vorantreibend: Wer waren ihre Eltern, warum mussten sie sterben? Welche Rolle spielte ein Journalist, der die damaligen Augenzeugen interviewte und in sein Buch die Schimmelreiter-Vision des betrunkenen Iven hineinwebte? Zum Kreis der Verdächtigen gehören weitere mehrere ehemalige Knechte Hauke Haiens und seines Widersachers Ole Peters: vierschrötige, wortkarge Gestalten, deren Charakterisierung Paluch/Habeck sehr gut gelingt, wie auch die Schilderung der Küstenlandschaft. „Das Land glich einer tiefgrünen, von Morgenschatten gestriegelten Pfütze“, lese ich, als mich der Bus über viele Serpentinen zurück ins Flachland trägt, oder: „Ein nebliges Aufwärts grauen Regens nieselte in den Himmel.“

Zurück im trüben schneelosen Stuttgart habe ich sogleich die beiden anderen Bücher zu Ende gelesen, die im Gepäck waren: zunächst Februar 33. Der Winter der Literatur von Uwe Wittstock, das auf spannende Weise in jene achtzig Jahre zurückliegenden Wochen vom 28. Januar bis 15. März 1933 zurückversetzt, als die Nationalsozialisten noch nicht völlig etabliert waren (noch stand eine Reichstagswahl bevor, am 5. März), mitten hinein in die Diskussionen, Winkelzüge, Entscheidungsnöte vieler Schriftsteller und Schriftstellerinnen: emigrieren oder im Land bleiben, Einfluss nehmen, auf ein baldiges Ende hoffen? Wittstock erwähnt auch das sogenannte Stuttgarter Kabelattentat vom 15. Februar 1933, als einige Kommunisten ein Rundfunkkabel kappten und so die Übertragung einer Wahlkampfrede Adolf Hitlers aus der Stuttgarter Stadthalle unterbrachen. Eine Rede, in der Hitler scharf gegen den damals noch amtierenden württembergischen Staatspräsidenten Eugen Bolz, Mitglied der Zentrumspartei, austeilte: Bald habe es sich „ausgebolzt“! Zufällig habe ich gerade eine Recherche zu einem Stolperstein begonnen, der ab Herbst 2023 im Stuttgarter Westen an einen jüdischen Sozialdemokraten erinnern soll, der im Frühjahr 1933 verhaftet und zwei Jahre in Lagern festgehalten wurde, bevor man ihn sozusagen zum Sterben nach Haus entließ. Wittstocks Buch endet mit der Razzia in einer Berliner Künstlerkolonie am 15. März; am selben Tag wurde in Württemberg Eugen Bolz durch einen strammen Nationalsozialisten ersetzt. Bolz verbrachte einige Wochen im Gefängnis Hohenasperg; später knüpfte er Kontakte zum Widerstand und kam nach dem missglückten Stauffenberg-Attentat im Sommer 1944 erneut in Haft.

Von Eugen Bolz führt eine Verbindung zum dritten Buch, das mich noch einmal besonders fasziniert hat: Steffen Schroeders Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor. Ernst Planck, Sohn des berühmten Physikers und Nobelpreisträgers Max Planck, wurde aufgrund seiner Beteiligung am Widerstand zusammen mit Eugen Bolz am 23. Januar 1945 in Plötzensee hingerichtet. Vergeblich hatte Max Planck noch ein Gnadengesuch an Hitler persönlich gerichtet. Als Figuren treten neben der Planck-Familie weitere berühmte Physiker auf: von Kurt Gödel, Albert Einstein bis Paul Ehrenfest, mit je eigenen Vater-Sohn-Konstellationen. Und auch eine Physikerin ist dabei, Lise Meitner, erste Physikprofessorin in Deutschland, die, nachdem sie noch mit Otto Hahn das Phänomen der Kernspaltung erforscht hatte, als sogenannte Halbjüdin nach Kopenhagen floh. Jahrelang rätselten die Alliierten, wie weit das nationalsozialistische Deutschland mit der Entwicklung der Atombombe – reale, sehr destruktive Frucht der theoretischen Kernphysik – gekommen war. Eine Nebenrolle spielt im Buch der berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch; auch bei ihm zeigt Schroeder, dass es oft keine klaren Hell-Dunkel-Oppositionen gab, kein deutliches Dafür oder Dagegen, sondern einen Spielraum an Schattierungen, von Anpassung und Widerständigkeit.

Andrea Paluch/Robert Habeck, Hauke Haiens Tod, Köln 2023 (Kiepenheuer & Witsch), 248 Seiten, 14,- Euro

Uwe Wittstock, Februar 33. Der Winter der Literatur, München 2021 (C.H. Beck), 288 Seiten, 24,- Euro

Steffen Schroeder, Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor, Berlin 2022 (Rowohlt Berlin), 320 Seiten, 22,- Euro

Anstehende Veranstaltungen