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Weihnachtsempfehlung von Astrid Braun: “Apeirogon” von Colum McCann

Foto: Astrid Braun
© Foto: Astrid Braun

Am Strand von Puerto del Carmen, 23. November 2023, 07:23 Uhr: gerade ist die Sonne aufgegangen, ein großer Flieger aus Metall schwebt am Himmel ein kurz vor der Landung im Flughafen Arrecife. Das Cover meiner mitgereisten Lektüre zeigt vor einem hellblauen Himmel große schwarze Vögelschatten. Sie kreisen über einem literarischen Schwergewicht, den mehr als 600 Seiten umfassenden Roman des irischen Schriftstellers Colum McCann mit dem klingenden, sich nicht jeder Leserin, jedem Leser gleich erschließenden Titel „Apeirogon“.

Nur ein Jahr nach der Veröffentlichung des Romans als Taschenbuch ist in Israel wieder Krieg nach dem scheußlichen Verbrechen der Hamas an vielen Israelis am 7. Oktober 2023. Die israelische Armee marschiert als Vergeltungsmaßnahme im Gaza-Streifen ein, um die mehr als 200 Geiseln aus den Fängen der Hamas zu befreien. Seitdem sind einige der Geisel wieder frei, Gaza aber schwer zerstört, ein Ende des Konflikts ist, wie immer, meint man, noch nicht in Sicht.

McCann bezeichnet seinen Text als einen „hybriden“ Roman, als eine Mischung von Erfundenem, Erinnertem und von Tatsachen.

Eigentlich aber, so wage ich eine irritierend knappe Zusammenfassung am Ende der Lektüre, geht es „nur“ um eines, um den Verlust, den die Väter Rami, Israeli, und Bassam, Palästineser, erlitten haben und den täglich zu erneuernden Entschluss, den beide aus ihrer Tragödie, den gewaltsamen Tod ihrer Kinder fortan gezogen haben: sich nicht in die Endlosspirale von Rache und Vergeltung zu begeben.

Vor allem aber gehen die beiden Väter und stellvertretend mit ihnen und für sie auch der Autor der Frage nach, wie viele Seiten ein solcher Verlust für die Betroffenen hat, vor allem, wenn sie sich in auf unterschiedlichen Seiten befinden? So viele wie die zählbar unendliche Menge an Seiten der geometrischen Figur eines Apeirogons? Nach jeder Sicht auf die Dinge springt eine neue Perspektive auf. So wie im Roman von McCann. Deshalb umfasst der Roman auch 1000 Kapitel, die mal nur aus einem Satz, mal aus vielen Seiten bestehen. Nach den ersten 499 Kapiteln erzählt in Kapitel 500 der Israeli Rami vom Tod seiner Tochter Smadar, die im Oktober 1997 bei einem Attentat im Zentrum Jerusalems ums Leben kam. In einem weiteren Kapitel 500 erzählt der Palästinenser Bassam vom Tod seiner Tochter Abir am 16. Januar 2007, tödlich getroffen von einem amerikanischen Gummigeschoss, das aus einer Waffe abgefeuert wurde, die einer alten Steinschleuder ähnelt. Zu diesem Zeitpunkt kennen sich Rami und Bassam bereits von ihrer gemeinsamen Arbeit bei „Combatants for Peace“, in dem sie sich als Israeli und Palästinenser zusammengefunden haben, um ihre Mitmenschen dort und weltweit von der Grausamkeit der Auseinandersetzungen aufzuklären und sich für eine friedliche Lösung einzusetzen.

Der irische Autor McCann ist durch den Nordirland-Konflikt wie kaum ein anderer geeignet, sich der Geschichte der beiden Männer und dem dahinter liegenden Nahost-Konflikt, wie er schmucklos genannt wird, anzunehmen, hat sich mit den Männern und ihren Familien angefreundet und auf Spurensuche begeben.

Nach den beiden Vater-Kapiteln 500 folgen, nun rückwärts gezählt, 499 weitere Kapitel. Alle Kapitel, die so elegant um das zentrale Mittelstück der beiden Väter-Erzählungen angeordnet sind, blättern auf, was ein Menschenleben in dieser hart umkämpften Region auf dem Boden der Geschichte ausmachen kann: die völlig unterschiedlichen Kindheiten, die schwierigen Lebensbedingungen der Palästinenser, aber auch der Israeli, die Wünsche, Träume, Phantasien der Bewohner:innen sowie alles, was die Recherche des Autors McCann zutage fördert wie zum Beispiel den Weg der Zugvögel über die „Heimat“ von Rami und Bassam.

Nicht ohne Grund umfasst das Buch 1001 Kapitel und verweist damit auf „Tausendundeine Nacht“, „eine List“, wie es im Roman auf S.377 heißt, „um im Angesicht des Todes zu überleben“.

Zu den Vögeln auf dem Cover: Fünfhundert Millionen Vögel ziehen jedes Jahr über den Hügeln von Bait Dschala durch die Lüfte. Bait Dschala ist ein palästinensischer Ort, in dem viele christliche Araber leben, nur zwei Kilometer westlich von Bethlehem.  Über Bait Dschala befindet sich die zweitgrößte Zugvögel-Flugroute der Welt.

Wie würden die Vögel beschreiben, was sie unter sich sehen: „israelische Siedlungen, palästinensische Wohnblocks, Dachgärten, Kasernen, Absperrungen, Umgehungsstraßen“? Wie würden sie dieses Wirrwarr an künstlichen Grenzen, an Checkpointen, Grenzposten, Soldaten, Steine werfenden Kindern deuten, obwohl die Richtung, das Ziel eigentlich ganz klar für beide Völker vorgegeben ist: ein Leben in Frieden? Stellvertretend „überfliegt“ McCann das Gebiet, gräbt sich in die Seele der Menschen ein, fördert die Poesie vergangener Tage und Literatur zutage. So sind zum Teil meditative Texte entstanden oder punktgenaue Formulierungen, Merksätze gar wie etwa „Das einzig Interessante ist, zu leben“ – Kapitel 53 im 2. Teil.

McCann ist auf eine einzigartige Reise gegangen, er fällt als Autor kein Urteil, ergreift keine Partei, erzählt nur mitreißend über einen Konflikt, der in der Liebe der Väter, ihrer gemeinsamen Arbeit für Aussöhnung eine (Er)lösung findet.

Colum McCann: „Apeirogon“. Übersetzt von Volker Oldenburg, Rowohlt Verlag, Hamburg, 608 Seiten.

Die bibliographischen Angaben für eine Bestellung im Buchhandel finden Sie hier

 

 

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